Eine Nacht in der Jerusalemer Grabeskirche

Grabeskirche Jerusalem: Eine Absprerrung mit der Aufschrift Polizei steht vor dem großen Mosaik in der Eingangnshalle

Heiligtum der Christenheit oder Ort menschlicher Abgründe?

Es hallen metallische Schläge durch die Gewölbe, das Piepsen und Quietschen eines rückwärtsfahrenden Gabelstaplers. Dann wird es kurz ruhiger. Etwa 10 Mönche verschiedener christlicher Kirchen versammeln sich vor dem riesigen Portal - von innen. Kurze Zustimmung von den Versammelten, die schwere Tür ächzt in den Angeln. Von innen wird der Riegel eingehängt, von aussen wird sie von einem Muslim verschlossen. Kaum ist die allabendliche fast schon rituelle Schließung der Grabeskirche vollzogen, erhebt sich ein Geschrei. Einer der Mönche geht mit Fäusten auf einen anderen zu. Es kommt zu einem minutenlangen Handgemenge. Offenbar ein Streit wegen der Bauarbeiten, auf die man sich nach 200 Jahren nun doch geeinigt hatte. In der Nacht wird die Tür für einige Zeit wieder geöffnet um weitere Teile eines Kranes hineinzubringen. Er wird benötigt um die Kapelle über Jesu Grab zu sanieren.

Hier soll Jesus gekreuzigt und begraben worden sein. Archäologische Funde und überlieferungen stützen die These. Im Jahr 325 habe man das Grab unter einem römischen Venustempel wieder entdeckt. Kaiser Konstantins Mutter besuchte damals Jerusalem, ein Jahr später gab der Kaiser den Bau einer Basilika in Auftrag. Spätere islamische Herrscher beschützten zunächst die christlichen Stätten in Jerusalem. Im Jahr 1009 gab jedoch der in Kairo herrschende Kalif Al-Ḥākim einen Befehl zur Zerstörung der Kirche. Es war wohl der damalige Höhepunkt einer Entwicklung zu einem intoleranten Islam, der sich gegen Sunniten, Juden und Christen wandte. Die Nachricht von der Zerstörung des Heiligtums verbreitete sich bis ins Abendland und löste letztendlich die Kreuzzüge aus.

Vielleicht ist die Unruhe für diesen Ort symptomatisch. Der Ort an dem der Gottessohn Todesqualen erlitt. Der Ort an dem der Sohn vom Leben getrennt wurde, vom Vater verlassen. Der Ort unvorstellbarer Leere und Dunkelheit. Der Ort, an dem alle Worte versagen.

Die Mönche haben sich in ihre Klosterzellen verzogen. Die Nacht ist angebrochen. Ich streife umher in dem riesigen Gebäude. Golgotha, der Ort der Kreuzigung ist heute von einer eigenen Kapelle der griechisch-orthodoxen Kirche umgeben. Tagsüber ist die Kapelle mit Menschen gefüllt. Ich habe freien Blick auf den Altar. Ein Stück des grauen Felsens verblasst im Angesicht des goldenen Glanzes. Noch vor Mitternacht kommt ein Mönch und liest aus dem Evangelium. Ihm fällt wohl das Stehen schwer und er lehnt sich an den Altar. Würdevoll empfinde ich die Lesung nicht. Nachdem er das Evangelium "heruntergelesen" hat verschwindet er genauso unauffällig in der Dunkelheit, wie er gekommen ist.

Der Stein der Salbung, ganz nah fotografiert, es sind die Risse zu sehen

Ich gehe die Treppe hinunter. Im Eingangsbereich der Grabeskirche befindet sich der Stein auf dem der Tote gesalbt worden sein soll. Er ist nur in der Nacht frei von Menschen, die sich darauf legen, ihn küssen, Dinge darauf ausbreiten und fotografieren, wohl als Versicherung, daß sie auch wirklich geheiligt werden. Ich betrachte den Stein, die Risse, die sich zeigen, je länger ich ihn betrachte. Ich habe nicht den Drang ihn zu berühren. Was hilft uns dieser Stein, spiegelglatt von den Stirnen, die sich an ihm rieben? Darüber hängen orientalische Lampen mit dem ewigen Licht. Marco Polo soll das Licht von hier mit nach China genommen haben. Ob es angekommen ist? Die Mönche die er dazu beauftragte, sollen die beschwerliche Reise jedenfalls schon bald abgebrochen haben.

Ich setze meine Reise durch die Nacht der Grabeskirche fort. Es finden sich noch heute zwei Grabhöhlen, die denen ähnlich sein sollen, in die Jesus gelegt worden ist. Ganz klein, kaum daß ein Mensch da hineinpasst. Sie sind verräuchert vom Ruß der Kerzen. Der "normale" Besucher wird sie kaum finden, sie sind nicht verziert und geschmückt, wirken urspünglich. Hier finde ich schon eher geistliche Ruhe. Stickige Luft. Der Tod des Gottessohnes, der zu einer neuen Zeitrechnung führte. Ist das nicht Zeichen genug?

Die kleine Grabeskapelle im Innern von unten fotografiert, oben drüber die große Kuppel der Grabenskirche

Tagsüber wird der Besucherstrom durch die gesamte Kirche geleitet, die Schlange zieht sich um die Kapelle, die als eigenständiges Gebäude innerhalb der Kirche über dem Grab errichtet wurde. Sie wird mit Stahlträgern zusammengehalten. Ein Mönch lässt im Minutentakt vier Besucher ein. Ich habe jetzt freien Zutritt! Aber ähnlich wie am Stein der Salbung beschleicht mich ein beklemmendes Gefühl. Auf diesem Stein soll Jesus gelegen haben? Nein! Es ist eine Marmorplatte! Allenfalls der Ort kann den Toten gesehen haben. Die nachempfundene Gruft ist tatsächlich nur so groß, dass gerade vier Menschen kniehend drinn Platz haben. Eine blankgewetzte Marmorplatte, Ikonen, Lampen, Gold oder Kitsch? Hier wird wieder zur Religion, wofür Jesus NICHT gestorben ist! Ein Ort, der verehrt wird wie ein Heiligtum der Heiden. Verstört verlasse ich diese künstliche Gruft. Bauarbeiter machen sich lärmend zu schaffen. Das Leben - mitten in der Nacht! Jesus ist auferstanden! Aber er war doch tot! Drei lange, lange Tage!

Es ist nach Mitternacht, fast ein Uhr. Plötzlich tauchen Mönche aller Kirchen auf. Ich halte mir die Ohren zu. Sie schwenken die Weihrauchfässer. Die Glöckchen daran schrillen und zerschneiden die Stille. Es scheint, als sprechen die Mönche der jeweilig anderen Kirche die "Weihrauchkompetenz" ab. Sie gehen von Kapelle zu Kapelle und schwenken ihre Fässer, fast so, als würden Sie damit Besitzansprüche deutlich machen. Die Katholiken bereiten sich vor. Sie machen es sich etwas bequemer als die Griechen. In einer Art Stehstuhl lesen sie die Texte von einem Drehpult ab. In dieser Nacht bin ich der einzige, der ihnen im wichtigsten Heiligtum der Christenheit zuhört. Aber ich verstehe sie nicht! Für wen werden sie gelesen? Die Franziskaner beginnen mit Ihrer Liturgie. Orgeltöne erfüllen den Raum. Die Gesänge der Franziskaner heben sich ab von den monotonen Liturgien der anderen. Mehr als eine Stunde Latein. Ist das Geschehen am Kreuz in eine Abfolge von Gesängen, Texten und Weihrauchschwenken zu fassen?

Die Leuchter über Jesu Grab in der kleinen Kapelle leuchten rot

Ich bin müde. Aber im Mittelschiff tut sich etwas, ich darf es nicht mehr betreten. Ein Mönch fläzt sich in die Bank zwischen Grabeskapelle und Mittelschiff. Zu welcher der sechs Kirchen gehörte er eigentlich? Es gesellen sich weitere in einfachen schwarzen Gewändern dazu und nehmen gegenüber der Grabesgruft Platz. Einer stellt einen mannshohen Leuchter vor den Eingang der Gruft. Weiihrauchfässer werden geschwenkt. Dann erscheint ein Mönch in weißem Gewand und verschwindet in der Gruft. Wechselgesänge zwischen denen draussen und, dumpf klingend, dem Weißen in der Gruft. Je länger ich die Liturgien verfolge umso fragwürdiger erscheinen sie mir.

Der golden verzierte Altar in der Kapelle auf Golgotha

Am Ort des Grabes, der Kreuzigung. Ich gehe wieder in die Golgotha-Kapelle. Kein Wort kann ausdrücken was hier geschah. Anwesend sein, wo ER aus dem Leben gestoßen wurde. Die Zeit verrinnt. Der Gabelstapler fährt mit piepsendem Warnton wieder rückwärts. Fünf Uhr morgens. Das Portal wird geöffnet. Kurz darauf erschallt ein ungewöhnlich klarer Wechselgesang der Armenier als wollten sie die verstörenden Schatten der Nacht vertreiben. Der Blick durch das geöffnete Portal zur aufgehenden Sonne beendet eine Nacht, beendet DIE Nacht. "Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten" heißt es im Evangelium.

Über diese Nacht habe ich eine sogenannte Webstory veröffentlicht. (Die Story ist leider nicht fürs Smartphone gegeignet)

This article was updated on April 15, 2022